Neurosensitivität

In der Wissenschaft werden die Begriffe «Sensory Processing Sensitivity» (vgl. z.B. ARON & ARON, 1997) und «Environmental Sensitivity» (vgl. z.B. PLUESS, 2015) benutzt, um auf die Beobachtung zu verweisen, dass sich sowohl Menschen als auch zahlreiche Tierarten in der Fähigkeit unterscheiden, Reize zu registrieren und zu verarbeiten. Die Existenz dieser interindividuellen Sensitivitätsunterschiede kann heute als wissenschaftlich gesichert angesehen werden.

Allerdings ist die Frage, worin der primäre, unterliegende Mechanismus dieser Sensitivitätsunterschiede beruht, noch nicht abschliessend geklärt. In diesem Kontext wurde innerhalb der Sensitivitätsforschung von PLUESS UND BELSKY (2013) erstmals der Begriff «Neurosensitivität» eingebracht. Dabei verweist Neurosensitivität auf die Hypothese, dass sich Individuen in der Sensitivität ihres zentralen Nervensystems unterscheiden (PLUESS, 2015). Diese Hypothese wurde in der Zwischenzeit zunehmend von anderen Sensitivitätsforschenden erhärtet, welche allesamt betonen, dass die interindividuellen Sensitivitätsunterschiede eine neuronale Basis haben (vgl. z.B. ACEVEDO et al., 2018; HOMBERG et al., 2016, MOORE & DEPUE, 2016).

Da unseres Erachtens der Begriff «Neurosensitivität» dieses fundamentale Persönlichkeitsmerkmal am präzisesten benennt, benutzen wir in unseren Beratungsdiensleistungen primär «Neurosensitivität» und manchmal auch einfach nur «Sensitivität». Angelehnt an PLUESS (2015) definieren wir Neurosensitivität dabei wie folgt:

Neurosensitivität ist ein fundamentales Persönlichkeitsmerkmal,

das auf der Sensitivität des zentralen Nervensystems beruht und

auf die Fähigkeit verweist, Reize zu registrieren und zu verarbeiten.

(vgl. Pluess, 2015)

Obschon natürlich alle Individuen über die Fähigkeit verfügen, Reize zu registrieren und zu verarbeiten, weisen sogannt hochsensitive Personen eine erhöhte Wahrnehmungsfähigkeit auf (LIONETTI et al., 2018; PLUESS et al., 2018). In diesem Kontext verdeutlicht die Studie von LIONETTI et al. (2018), dass Neurosensitivität normalverteilt ist und somit eine Mehrheit von normalsensitiven Personen, eine Minderheit von hochsensitiven Personen und eine weitere Minderheit von wenigsensitiven Personen existiert. Trotz dieser kategorialen Sprache sei jedoch betont, dass die Übergänge zwischen diesen drei Sensitivitätsgruppen fliessend sind (bei der normalverteilten Körpergrösse wird z.B. auch keine klare Trennung zwischen grossen und kleinen Personen gemacht).

Vantage-Sensitivität

Die Sensitivitätsforschung verweist darauf, dass nicht nur bezüglich der unterschiedlichen Sensitivitätslevels von Individuen differenziert werden sollte, sondern ebenfalls bezüglich der unterschiedlichen Funktionsfähigkeit (vgl. z.B. BAKKER & MOULDING, 2012; PLUESS, 2015). In diesem Kontext fasst PLUESS (2015) die wissenschaftliche Evidenz anhand von vier Sensitivitätstypen zusammen.

Wenn keine Sensitivitätsgene vorhanden sind, wird - unabhängig von der frühen Umwelt - «Low Sensitivity» entwickelt. Diese geringe Sensitivität führt dazu, dass sowohl negative als auch positive Reize nur einen sehr geringen Einfluss auf das Individuum ausüben.

Wenn Sensitivitätsgene vorhanden sind, spielen die Bedingungen der Kindheit eine entscheidende Rolle, welcher Sensitivitätstyp schliesslich herausgebildet wird. Bei einer sehr ungünstigen Kindheit wird «Vulnerability» entwickelt, was dazu führt, dass eine vulnerabel-sensitive Person zwar von negativen Reizen stärker beeinträchtigt wird, hingegen von positiven Reizen kaum profitieren kann. Bei einer sehr günstigen Kindheit wird «Vantage Sensitivity» entwickelt, was dazu führt, dass eine vantage-sensitive Person zwar von positiven Reizen stärker profitiert, hingegen gegenüber negativen Reizen - in gleichem Masse wie wenigsensitive Personen - resilient ist. Bei einer durchschnittlich günstigen Kindheit wird «General Sensitivity» entwickelt, was dazu führt, dass eine generell-sensitive Person sowohl von negativen als auch von positiven Reizen stärker beeinflusst wird.

Im Kontext dieser Sensitivitätstypen sei betont, dass «Low Sensitivity», «Vulnerability» und «Vantage Sensitivity» drei Extremtypen darstellen. Dabei kann davon ausgegangen werden, dass sich die meisten Menschen irgendwo zwischen diesen drei Extremtypen befinden, was auch folgende Abbildung verteutlicht: